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2022-07-22 17:38:06 By : Admin

03.04.22 - Putin – der russische Pate

Das Buch, das ich Ihnen heute vorstelle, erschien 2015, es stammt von Garri Kasparov, einem der weltweit besten Schachspieler. 2005 zog er sich vom Schachspiel zurück. Er ist als Autor diverser Schachbücher erfolgreich, er versuchte, 2015 in der russischen Oppositionspolitik Fuß zu fassen – und musste das Land verlassen.

Es ist tragisch, recht gehabt zu haben

Die Soldatenmütter Ida Kuklina, Valentina Vonti, Tatiana Znatschkova, Flera Salihovskaya ...© Reuters

Die Soldatenmütter Ida Kuklina, Valentina Vonti, Tatiana Znatschkova, Flera Salihovskaya ...© Reuters

"Winter is coming" – so der Originaltitel in Anlehnung an "Game of Thrones" – hat im Deutschen leider einen sperrig-langweiligen Titel, ist aber seit kurzem immerhin wieder als EBook und das dazu sehr günstig erhältlich. Es ist erschreckend hellsichtig – denn vor sieben Jahren war nichts anders als heute. Putin führte die westliche Welt am Nasenring durch die Arena.

Kasparov – der 2016 Russland verlassen musste und seither in Kroatien lebt – wurde nicht müde, immer wieder vor Putin zu warnen. Am 26. Februar 2022 sagte er im Handelsblatt: "Für Putin gibt es kein Ende. Diktatoren stoppen nie von selbst, man muss sie stoppen. Ich hoffe, die Ukraine wird das Ende sein, weil wir Putin entschlossen entgegentreten und sicherstellen, dass sein Regime bankrottgeht. Putin sitzt auf Hunderten Milliarden Dollar und hat sich das ausgeklügeltste Netzwerk an Agenten und Lobbyisten weltweit aufgebaut. Wenn Ihnen vor 20 Jahren jemand gesagt hätte, dass ein KGB-Agent an der Spitze Russlands in der Lage wäre, einen deutschen Ex-Kanzler (Schröder) und einen französischen Ex-Premier (Fillon) anzustellen, um für ihn zu arbeiten, Sie hätten doch gesagt: Komm, das wird nie passieren."

Garri Kasparow © Vladimir Shtanko/Anadolu Agency/Getty Images

Garri Kasparow © Vladimir Shtanko/Anadolu Agency/Getty Images

Stimmt. Wir hätten all dies für genauso unmöglich gehalten wie seinerzeit Neville Chamberlain Hitlers Kriegslust. ‚Peace in our time‘ hatte nie eine Chance, weil es eben einen gab, der Krieg wollte. Und Appeasement hat auch gegen Putin keine Chance, weil das nicht seine Sprache ist. Insofern hat Deutschland in den letzten 25 Jahren konsequent die falsche Russland- und damit die falsche Energiepolitik gemacht. Jetzt sind wir alle – Volk wie Regierung – aus unseren Träumereien aufgewacht, konfrontiert mit vielen hässlichen Wahrheiten.

Dèja vu: Vor sieben Jahren war es so wie heute

Erst fällt die Ukraine, dann weitere Staaten © Facebook

Erst fällt die Ukraine, dann weitere Staaten © Facebook

1991 wurde der Putsch gegen Gorbatschow niedergeschlagen. Damals dachten viele, nun beginne eine Zeit der Neuerung, eine Demokratisierung Russlands. Nur acht Jahre später aber wurde ein Ex-KGB-Offizier Nachfolger Jelzins und nutzte dabei den von ihm angezettelten ersten Tschetschenien-Krieg zum Wahlgewinn. Danach schaffte er systematisch alle demokratischen Errungenschaften ab. Im Jahr 2015 annektiert Putin die Krim – seine Argumentation war ähnlich wie heute im Ukraine-Krieg.

Zwei parallel und sich immer wieder kreuzende Geschichten haben zur Lage des Jahres  2015 wie zu der des Jahres 2022 geführt. "Da ist zum einen die Geschichte eines Landes, das die Befreiung vom Kommunismus feierte, wenige Jahre später jedoch einen KGB-Offizier zu seinem Führer wählte und sich bald darauf dranmachte, seine Nachbarn zu unterwerfen. Die andere Geschichte handelt davon, wie die freie Welt durch eine Kombination von Gleichgültigkeit, Unkenntnis und falsch verstandenem Wohlwollen dazu beitrug, diese Verwandlung möglich zu machen."

Greser/Lenz: Im Kreml brennt kein Licht. Wladimir, der Schreckliche – die Karikatur ...© FAZ, 27.03.22 © FAZ, 27.03.22

Greser/Lenz: Im Kreml brennt kein Licht. Wladimir, der Schreckliche – die Karikatur ...© FAZ, 27.03.22

Verspüren Sie beim Lesen dieser Zeilen so etwas wie Phantomschmerzen? Es wird noch schlimmer. Dieses nun sieben Jahre alte Buch nimmt Wort für Wort und Tat für Tat und Krieg für Krieg den Schlamassel vorweg, indem wir uns gerade befinden.

Der Untergang der Kursk als Menetekel

Eine Episode, die Kasparov aufgreift, hat mich erneut sehr aufgewühlt, denn ich erinnere mich noch gut daran. Am 12. August 2000 sank das Atom-U-Boot Kursk, 118 Seeleute fanden den Tod. Allerdings starben nicht alle Seeleute wegen des defekten Torpedos, der das Unglück auslöste. Viele kamen schlichtweg deshalb um, weil Putin und seine Militärs nicht angemessen reagierten. Das begann damit, dass Putin im Urlaub in Sotschi blieb, während die Welt gebannt den Rettungsversuchen zusah. Das setzte sich fort damit, dass er die sofort gemachten internationalen Hilfsangebote ausschlug. Es dauerte fünf Tage und viele gescheiterte Rettungsversuche, bis endlich ein norwegisches Bergungsschiff eingesetzt werden konnte. Aber da war alles zu spät und man konnte nur noch Tote bergen.

Stunksitzung, Karikatur von Janson © Website des Künstlers

Stunksitzung, Karikatur von Janson © Website des Künstlers

Was dann geschah, ist bezeichnend für das System Putin. Die russische Kriegsmarine setzte sofort falsche Berichte über die Unglücksursache in die Welt (die Kursk wurde von einem U-Boot der NATO gerammt) und ließ sich von dieser Version auch nicht durch den amtlichen Untersuchungsbericht abbringen. Die russischen Medien berichteten kritisch, insbesondere, was die Rolle Putins anging. Der zog daraus nicht etwa den Schluss, eine inkompetente Militärführung auszutauschen, sondern ging gegen die Presse vor, die kritisch berichtete. Denn er hatte begriffen: unfreundliche Berichterstattung könnte ihm gefährlich werden.

Kölner Karnevalswagen 2022 © Antenne Düsseldorf

Kölner Karnevalswagen 2022 © Antenne Düsseldorf

Kommt Ihnen bekannt vor? "Wer heute noch behauptet, Putins wahre Natur nicht zu kennen, muss ein Witzbold, ein Dummkopf oder ein Scharlatan sein", schreibt Kasparov. Und fügt hinzu, Putin werde von Leuten verteidigt, die entweder von ihm profitierten oder gefährliche Ignoranten seien – die politische Kaste Deutschland kann sich also aussuchen, in welche Sparte sie fällt.

Putins Politik bedient sich der schlechtesten Versatzstücke der Zaren- wie der Sowjet-Zeit. So wurden nicht etwa die Geiseln des Landes – die grassierende Korruption und der aufgeblasene Staat – bekämpft, strukturelle Veränderungen wurden sogar bewusst sabotiert. Es blieben die an der Macht und im Geschäft, die es schon immer waren. Auch die Gleichgültigkeit gegenüber dem Individuum war nichts Neues. Putin war es egal, wieviele Soldatenleben er in den von ihm angezettelten oder befeuerten Kriegen opferte. Hauptsache, er gehörte zu den Kriegsgewinnlern, und seine Nomenklatura ebenso.

Beste Freunde, Berliner MoPo Berliner MoPo © kari/BM

Beste Freunde, Berliner MoPo Berliner MoPo © kari/BM

Schon sehr früh kristallisiert sich auch die spezifisch Putin’sche Sicht auf die Geschichte heraus. Größe kann ein Land in dieser Deutung nur erlangen, wenn es – in Inland wie im Ausland – keinen gefährlichen Gegner mehr hat. Putins zentrales Anliegen war deshalb zunächst die Zerstörung der russischen Opposition. Wer sich widersetzte, riskierte Karriere, Freiheit und Leben. Unzählige Namen stehen dafür – von Oligarchen wie Beresowkij, Gussinski und Chodorkowski bis hin zu Oppositionspolitikern wie Nemzov und Nawalny, kritischen Journalisten wie Politkowskaja und unangepassten Künstlern wie Pussy Riot. Die Reaktion des Westens? Inadäquat, man ließ ihn gewähren.

Nach altem Rezept Berliner MoPo© Tomicek

Nach altem Rezept Berliner MoPo© Tomicek

Putin sprach stets von "Konsolidisierungstrategie", de facto handelte es sich immer um Unterdrückung, Enteignung und Diebstahl. "Kann man es Diebstahl nennen, wenn ein Kannibale eine Gabel benutzt?", fragte der polnische Schrifsteller Stanislaw Jerzy Lec – ein scharfzüngiger Kritiker totalitären Denkens. Nach dem im Innern des Landes Ruhe herrschte, ließ Putin die Maske fallen – nun hatte er es nicht mehr nötig, dem Westen vorzuspielen, ihn interessiere, was Demokraten dachten. Kasparov schildert den Aufstieg Putins und seiner Petersburger Clique wie eine Fortsetzung von Mario Puzos "Der Pate" – es gibt keine Trennung zwischen Geschäftlichem, Politischem und Kriminellem. Wer dem Paten treu ergeben ist, erhält Schutz und Geld, wer nicht, wird verfolgt.

Schröders Schritt in den Aufsichtsrat von Gazprom nennt Kasparov schamlos und ethisch fragwürdig und konstatiert: "Schröder trat nicht einfach in ein russisches Unternehmen ein. Er trat in die Putin-Regierung ein. (…) Die Sache der Demokratie erleidet schweren Schaden, wenn eine Figur wie Schröder bereitwillig ein Bündnis mit den Schergen eines autoritären Regimes eingeht."

Diese Sätze sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen und ins Willy-Brandt-Haus funken. Schröder gehört nicht nur aus der SPD entfernt, er sollte auch aller Privilegien eines Ex-Kanzlers verlustig gehen. Schröder schadet nicht nur der Demokratie überall, er schadet dem Land, dass er einige Jahre als Kanzler führte.

Putin – eine Gefahr für die Welt

Noch vor dem Angriff auf Georgien im Jahr 2008 hatte die russische Opposition immer wieder gesagt: Putin wird über kurz oder lang ein Problem für die Welt. 2007 erfolgte jene ‚Wahl‘, nach der er die Rochade mit Medwedew inszenierte und sich zum Dauerpräsidenten Russlands machte – aktuell bis 2036. Seither sei klar, dass Putin den Kreml nur mit den Füßen voran verlassen wird.

Kasparov überträgt die Prinzipien seines erfolgreichen Schachspiels auf die Weltpolitik: Man muss stets das ganze Schachbrett im Blick haben, nicht nur eine Zone. Genau das geschah aber 2008 – zeitgleich mit der Wahl Obamas und dem Scheitern der US-Außenpolitik (Iran, Irak). "Wenn der Spieler, der die Initiative – also die Angriffsdynamik in der Position auf seiner Seite – hat, nicht imstande ist, sie zu nutzen, ist ein Gegenangriff der anderen Seite unvermeidlich, und dieser Gegenangriff wird massiv sein."  Obama redete zwar inspiriert, ließ seinen Reden meist aber keine Taten folgen. Er zog rote Linien, ließ deren Überschreitung aber zu – Potentaten weltweit zogen daraus ihre Schlüsse. Die europäischen Regierungen ihrerseits machten fröhlich weiter Geschäfte mit Putin und protestierten allerhöchstens halbherzig. Wandel durch Handel war spätestens 2008 als Wunschdenken demaskiert worden.

"Die Ukraine sollte verteidigt werden, als hätte sie eine gemeinsame Grenze mit jedem freien Land der Erde" – diesen Satz schrieb Kasparov vor sieben Jahren. Mögen bitte die poltischen Führer des Westens diesen Satz jeden Tag wiederholen und danach handeln. Denn in der Ukraine verteidigen wir gemeinsam Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmtheit. Putin-Versteher kann man meinetwegen bleiben, es sollte aber gesellschaftlicher Konsens sein, dass diese Haltung sich mehrfach blutig überholt hat.

Links zu Rezensionen und Interviews mit Kasparov

https://reason.com/podcast/2021/11/03/garry-kasparov-greatest-soviet-chess-champion-on-the-awful-system-that-created-him/

https://slate.com/culture/2020/11/queens-gambit-garry-kasparov-interview-netflix-chess-adviser.html

https://www.focus.de/digital/dldaily/dld-schachlegende-kasparov-wir-befinden-uns-im-krieg-und-der-westen-schaut-hilflos-zu_id_11577351.html

https://www.handelsblatt.com/politik/international/interview-garri-kasparow-kommt-putin-mit-der-invasion-der-ukraine-davon-gibt-es-keine-grenzen-mehr/28108234.html